- Heian-Zeit: Die Epoche der klassischen Literatur
- Heian-Zeit: Die Epoche der klassischen LiteraturUnter Kammu-tennō, einem der letzten echten Monarchen Japans, wurde die Residenz 794 aus machtpolitischen Gründen von Nara nach Uda verlegt. Sie erhielt den Namen »Heian-kyō« (= Hauptstadt des Friedens, das heutige Kyōto). Ein neues Zeitalter begann, das vier Jahrhunderte andauerte und als Zeitalter der japanischen Klassik in die Geschichte einging. Denn nach einer langen Phase des Eindringens und der Übernahme chinesischen Kulturgutes begann nun eine nationale Selbstbesinnung mit Abgrenzung und Schaffung einer Zivilisation unverwechselbar japanischer Prägung. Literatur und Kunst der höfisch bestimmten Adelsgesellschaft reiften zu eigenständiger Vollendung heran, die künftigen Generationen als Vorbild diente und noch heute als japanische Klassik gilt.In der frühen Heian-Zeit (9. bis 10. Jahrhundert) entwickelte sich als Trägerin der Nationalliteratur die japanische Schriftsprache auf der Basis einer chinesisch-japanischen Mischschrift, deren Besonderheit im Gebrauch einer Silbenschrift zur Wiedergabe des japanischen Wortlautes bestand. Frühe Festlandkontakte hatten chinesisches Schriftgut nach Japan gebracht, und seit dem 4. Jahrhundert war die chinesische Schrift und mit ihr die chinesische Schriftsprache in Japan in Gebrauch. Die Vermittlung und Pflege dieser Schriftkultur durch hauptsächlich koreanische Einwanderer, deren Sprache strukturell dem Japanischen gleicht, hatte den Weg zu einer eigenen Silbenschrift bereitet: Chinesische Wortschriftzeichen wurden nach ihrem Lautwert verwendet. Dieses noch behelfsmäßige Schriftsystem war neben der chinesischen Schriftsprache das Medium der altjapanischen, vorklassischen Literatur, repräsentiert durch Denkmäler wie die Chronik »Kojiki« (712) oder die mehr als 4 000 Gedichte umfassende Anthologie »Manyōshū« (um 760). Gegen Ende der Nara-Zeit kam es zur Systematisierung der Schreibpraxis: Die chinesischen Schriftzeichen wurden zum Teil entsprechend ihrer begrifflichen Bedeutung (also unabhängig vom Lautwert), zum Teil nach ihrem Lautwert (angepasst an die japanische Aussprache) übernommen. Von diesem lautwertigen Gebrauch her entwickelte sich die Silbenschrift Kana mit ihren gegenüber den Vollformen der chinesischen Schriftzeichen stark verkürzten Zeichen (Kursiv- oder Teilzeichen). Damit war das Endstadium der Entwicklung einer noch heute intakten chinesisch-japanischen Mischschrift erreicht, die ein praktikables Instrument der japanischen Literatursprache und einer rasch erblühenden Nationalliteratur bildete.Anfangs waren es hauptsächlich adlige Damen, die die einfache, weich dahinfließende Kursivform der Kanaschrift in ihren privaten Aufzeichnungen benutzten, weshalb sie auch Frauenschrift (»onnade«) genannt wurde, während sich die gebildete Herrenwelt weiterhin der Männerschrift (»otokomoji«) bediente, das heißt der chinesischen Schriftzeichen und Schriftsprache, die bis über das Mittelalter hinaus wichtigstes Medium der japanischen Sachliteratur blieb. Die Geschlechterbindung beider Schreibweisen war anfangs so stark, dass sich noch der Autor Ki no Tsurayuki des Reisetagebuches »Tosa-nikki« (935), eines der ältesten japanisch geschriebenen Prosawerke, als Frau ausgab. Er war es auch, der die kaiserlich geförderte Anthologie »Kokinshū« (905 bis 914) edierte, die erste von 21 offiziellen Sammlungen japanischer Dichtung. Konzipiert als Nachfolgewerk des »Manyōshū«, versehen mit einem chinesischen und einem japanischen Vorwort und niedergeschrieben unter Verwendung der Kanasilbenschrift, machte diese Anthologie die japanische Sprache als Literatursprache hoffähig und bekräftigte die traditionell hohe Wertschätzung der Dichtung. Die einfühlsame Natur- und Liebeslyrik in der fortan beherrschenden Form des 31 Silben umfassenden Kurzgedichtes Tanka - reimlos mit der Silbenfolge 5 : 7 : 5/7 : 7 - fand bereits in dieser Sammlung klassischen Ausdruck. Eines der schönsten und gerühmtesten Beispiele ist das dem Edelmann Ariwara no Narihira zugeschriebene Tanka aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts:Yo-no naka-niTaete sakura-noNakarisebaHaru-no kokoro-waNodokekaramashiWenn es in der Weltgar keine Kirschblütengäbe,wäre das Herz im Frühlingstets heiter-gelassen.Das Wissen um die Vergänglichkeit des Schönen (hier im Symbol der Kirschblüte dargestellt) überschattet dessen Wahrnehmung und ruft eine Stimmung der Melancholie hervor, die im Lebensgefühl der damaligen Adelsgesellschaft verwurzelt war. Die genussvolle Hingabe an dieses Lebensgefühl prägte den Zeitgeist, der in der achten Anthologie »Shin-Kokinshū«, dem »Neuen Kokinshū« aus dem Jahr 1205, besonders deutlich hervortritt. Die Zartheit dieser Dichtung und die mit ihr verbundene ausgefeilte Ästhetik spiegeln eine aristokratisch-höfische Kultur auf der Grundlage wirtschaftlicher Unabhängigkeit großer Adelsgeschlechter.Die literarischen Texte im Umfeld einer weiblich anmutenden Verfeinerung waren sehr häufig das Werk der Adelsdamen. So ist die Heian-zeitliche Memoirenliteratur nach dem »Tosa-nikki« in erster Linie Frauenliteratur privaten Charakters, in der Eheschicksale wie im »Kagerō-nikki«, Beobachtungen und Reflexionen wie im »Makura-no-sōshi« oder höfisches Treiben wie im »Murasaki-Shikibu-nikki« ihre Darstellung finden.Nur manche der Autorinnen gewinnen durch ihr Werk schärferes Profil. So die Hofdame Sei Shōnagon, Verfasserin des »Kopfkissenbuches« (»Makura-no-sōshi«), die uns in ihrer Sammlung skizzenhafter Aufzeichnungen als gebildete, scharfsinnige und spitzzüngige Person entgegentritt, oder die Hofdame Murasaki Shikibu, die vor allem als Autorin des großen, 54 Kapitel umfassenden Romans »Genji-monogatari« (um 1010) berühmt wurde. In diesem Roman hat sie ein breitflächiges Bild der japanischen Adelsgesellschaft auf der Höhe der Heian-Zeit gezeichnet. In Stil und Sichtweise trägt das Werk deutlich feminine Züge und gilt als Meisterwerk der japanischen Frauenliteratur ebenso wie als Markstein der literarischen Klassik Japans. Es ist geprägt vom Geist des Mono-no-aware, des »Gerührtseins von den Dingen«, dem wehmütigen Lebensgefühl einer feinsinnigen, fast schon versnobten Aristokratie. Die Erzählprosa (»monogatari«) in Verbindung mit der Versdichtung - das Werk enthält 794 Tanka -, prägen das Stilgefüge des Romans. Eine solche Verquickung von Prosa mit Poesie ist ein Merkmal der klassischen Literatur Japans. Überhaupt sind lyrische Einlagen und die Reihung von Geschichten - zum Beispiel im »Konjaku-monogatari«, einer Sammlung chinesischer und japanischer Sagen und Legenden - eher charakteristisch für Japans ältere Literatur als umfängliche Romanwerke. Das »Genji-monogatari« gab Anstöße für etliche romanhafte Erzählungen, und selbst das »Eiga-monogatari« aus dem 11. Jahrhundert, das die Geschichtsschreibung von älteren sechs Reichsgeschichten fortsetzt und die Blütezeit des mächtigen Fujiwara-Geschlechtes beschreibt, steht in dieser Tradition.In der zweiten Hälfte der Heian-Zeit (11. bis 12. Jahrhundert) zeigen sich bereits retrospektive Züge in der Literatur, in denen die Zeit des mächtigen Regenten Fujiwara no Michinaga (* 966, ✝ 1028) schon als »Goldenes Zeitalter« angesehen wird. Auch im Sammeln von Liedern und Geschichten zeigt sich diese vergangenheitsbezogene Blickrichtung. Als dann mit dem Auftreten des kriegerischen Provinzadels die Macht des alten Hofadels zu Ende ging, verblasste auch der höfische Glanz der klassischen Literatur. Die männlichen Ideale des japanischen Rittertums drängten das Weltbild des Hofadels in den Hintergrund. Eine maskuline Sprache mit deutlich höherem chinesischen Anteil charakterisiert schon äußerlich diesen Umbruch, der sich literarisch in den Kriegshistorien des 13. und 14. Jahrhunderts artikuliert. Je weiter aber die Heian-Zeit in die Vergangenheit zurücktrat, desto stärker wurde ihre höfische Kultur und damit auch ihre Literatur als klassisch und vorbildhaft idealisiert.Prof. Dr. Bruno Lewin
Universal-Lexikon. 2012.